4. Sitten und Bräuche von Herren und Knechten

Die Kultur des äthiopischen Hochlandes und seiner Nachbargebiete wurde durch die christlich-orthodoxe Kirche und das traditionsverwurzelte Bauerntum entscheidend geprägt. Viele Sitten und Bräuche muten biblisch-archaisch an. Fremde fühlen sich zeitweise auch heute noch in die Zeit des Alten Testaments zurückversetzt.

Der erblichen Abstammung und Familienzugehörigkeit wird grösste Bedeutung beigemessen. Das Beispiel der salomonischen Dynastie, die ihre Abstammung (und somit ihre Macht) vom Sohn Davids abzuleiten versuchte, wurde bereits erwähnt. Ähnliches gilt aber auch für den gewöhnlichen Mann. Nur wer seine Ahnenreihe über viele Generationen nachweisen kann, besitzt Prestige und bürgerliche Rechte (z.B. Landbesitz). Jedes Kind kennt deshalb seine Familiengeschichte bis ins Detail. Natürlich darf es dabei nicht überraschen, dass viele dieser Ahnenreihen auf erfundenen Zwecklegenden beruhen.

Die grosse Bedeutung der familiären Abstammung prägt auch das tägliche Leben. Bei der Auswahl von Ehepartnern durch die Eltern, bei Einladungen und sozialen Kontakten, bei der Wahl von Geschäftspartnern, überall spielen die Familienbande mit. Nicht Kleider oder Geld machen in Äthiopien Leute, sondern der Stammbaum.

Die Aufgabe, den guten Ruf der Familie zu schätzen, wird daher von allen Äthiopiern äusserst ernst genommen. Fehler aller Art, ja selbst Verbrechen, werden danach beurteilt, wie sehr sie dem Ruf der Familie schaden. So kann der unerkannte Räuber durchaus gepriesen, der ertappte Dieb hingegen verstossen werden.

Der Verhaltenskodex der Menschen ist bestimmt von Ehrfurcht und Respekt, was sich in einem starken Formalismus und einer allgemeinen Zurückhaltung ausdrückt. Höflichkeit ist äusserst wichtig, und Begrüssungen können manchmal Minuten dauern. Gegenüber Fremden ist man äusserst zurückhaltend. Man scheut jede körperliche Berührung (z.B. Schulterklopfen) und wartet, bis man angeredet wird. Spontane Meinungsäusserungen sind allgemein verpönt. „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ hat unter Äthiopiern ganz besonders Gültigkeit.

Das traditionelle Gesellschaftssystem ist patriarchalisch und räumt den Frauen nur bescheidene Rechte ein. Häufig erinnern die weiblichen Mitglieder einer Familie an Dienstpersonal oder gar Sklaven, die den grössten Teil aller Arbeit leisten, die Männer bedienen, aber nur wenig Freiheiten besitzen. Die strenge Arbeitsteilung unter den Geschlechtern (Wassertragen etwa ist Frauenaufgabe, während Pflügen Männerpflicht ist) sorgt jedoch für ein gewisses Gleichgewicht zwischen den Rechten und Pflichten. In Bereichen, die für Männer tabuisiert sind (z.B. Bierbrauen), können sich die Frauen somit gewisse Machtstellungen sichern.

Feiern und Fasten wechseln sich in strengem Rhythmus ab. An den 250 Fastentagen im Jahr (wovon 180 verpflichtend sind), nehmen die Hochlandbewohner nur eine Mahlzeit und keine tierischen Produkte wie Fleisch, Eier oder Milch zu sich. Auf dem Lande werden diese Vorschriften noch sehr genau befolgt.

An den kirchlichen Feiertagen und gleichzeitig profanen Feiertagen wird das harte Fasten durch ausgiebiges Festen kompensiert. Nach der Beendigung der kirchlichen Rituale, die häufig viele Stunden dauern und am frühen Morgen noch vor Sonnenaufgang beginnen, wird bei Tanz und Gesang, mit Fleisch und Gerstensaft bzw. Honigwein geschlemmert.

Das wichtigste Fest im Jahr ist Meskel, ein christianisiertes Erntedankfest, das immer am 14. „September“ (im äthiopischen Kalender) stattfindet und an die Wiederfindung des Kreuzes Jesu erinnert. Es folgen, mit abnehmender Bedeutung Ostern, Temket (Taufe Jesu im Jordan), Weihnachten und das Fest des Hl. Johannes (= neues Jahr beim Eintreffen der Nilflut in Ägypten: 11. September). Auch die Tage der verschiedenen Kirchenpatrone werden von den einzelnen Kirchgemeinden als „Kirchmesse“ gefeiert.

Selbstverständlich folgen die nicht-christlichen Religionsgemeinschaften einem anderen Feiertagskalender, auf den an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann. Die grössten christlichen Feste werden jedoch im ganzen Lande von allen gefeiert.

In der Tourismuswerbung wird Äthiopien häufig als Land mit dreizehn Sommermonaten angepriesen. Man bezieht sich dabei auf die Eigentümlichkeit des Kalenders, der im Jahr zwölf Monate mit 30 Tagen und einen 13. Restmonat mit fünf bzw. sechs Tagen zählt. Auch ist im Lande der julianische Kalender gebräuchlich (wie in der russisch-orthodoxen Kirche), der hinsichtlich der Jahreszählung sieben Jahre hinter dem gregorianischen zurückliegt. In Äthiopien schreibt man also im Jahre 1990 erst 1983. Wo, wie etwa in Büros von Fluggesellschaften, die Daten umgerechnet werden müssen, stehen Tafeln zur Verfügung. Auch bei der Tageszeit gibt es Unterschiede. In den meisten Gebieten werden Nacht und Tag in je 12 Stunden unterteilt. Der Tag beginnt somit nach 12 Uhr, und 7 Uhr morgens ist 1 Uhr.

Seit dem Machtwechsel hat sich wirtschaftlich, sozial und gesellschaftspolitisch sehr vieles geändert. Die neue Generation ist durch die Promotion der Befreiungsbewegungen in vielen Beziehungen modernisiert (verbesserte Stellung von Frauen und der ländlichen Bevölkerung allgemein; Bekämpfung der weitverbreiteten Frauenbeschneidung unter Christen und Muslimen), und durch globalisierte Strömungen und Massenmedien beeinflusst. Trotzdem werden viele Traditionen weiter gepflegt, und die Kirchen und Moscheen bleiben gefüllt. Das Fasten der Christen z.B. wurde unter dem gegenwärtigen Patriarchen gar verschärft und umfasst alle tierischen Produkte (inklusive Fisch, Milch, Eier).

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