Die absolute Verkehrsfeindlichkeit der Landschaft dürfte, gefördert durch anhaltende Kriegswirren und eine Jahrhunderte dauernde Isolation des Reiches gegen aussen, dafür verantwortlich sein, dass das Land bis heute kaum technisiert oder industrialisiert worden ist. Äthiopien ist auch heute noch ein ausgesprochenes Agrarland, ein Volk von Bauern, Hirten und Soldaten.
Hochstehendes Handwerk ist im Laufe der Menschheitsgeschichte bekanntlich immer in städtischen Kulturen entstanden, die wegen des grossen Abnehmerkreises eine echte Spezialisierung zuliessen oder gar förderten. Erste Ansätze zu solchen Entwicklungen können auch in den historischen Zentren des Reiches (Aksum, Lalibela, Gondar) nachgewiesen werden. Doch erschwerte das unwegsame Gelände damals und später ein grösseres Wachstum der Städte. Ohne Strassen und Flüsse konnten die Städte von einer gewissen Grösse an nicht mehr versorgt werden. Sie konnten auch ihre Handelsprodukte nur in einem räumlich beschränkten Hinterland absetzen. Ferner führten Kriege und höfische Intrigen häufig zum Niedergang ganzer Kulturen.
In Anbetracht der grossen äthiopischen Kulturleistungen in Literatur, Musik, Malerei und Architektur überrascht es uns Europäer, dass in abgelegenen Dörfern das Rad auch heute noch unbekannt oder in die Alltagsarbeit nicht integriert ist. Dabei ist es interessant zu wissen, dass das Rad im 4. Jh. n. Chr. in Aksum Verwendung fand, später jedoch wieder in Vergessenheit geriet.
Ein wichtiger Grund, der ein Wachstum des Handwerks verhinderte, ist das geringe Prestige, das Handwerkern zugestanden wurde. Die Schmiede, Töpfer, Weber, Sattler und Goldschmiede wurden vom freien Landmann verachtet. Auch wurden sie sehr schlecht entlöhnt und durften keinen eigenen Boden bebauen. Die Organisierung von Handwerkergruppen, die sich wie unsere Zünfte im Mittelalter für die Interessen und Rechte ihrer Mitglieder hätten einsetzen können, gelang nicht. Technischer Fortschritt war in Äthiopien bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts kaum wahrnehmbar.
Neue Impulse ausserhalb der Landwirtschaft und Selbstversorgung erhielt die äthiopische Wirtschaft erst durch die italienische Besetzung. Von 1885 bis 1941 war Eritrea eine italienische Kolonie und veränderte sich in diesem Zeitraum stark. Gleichzeitig bemühte sich im damals sogenannten Abessinien Kaiser Menelik II. um eine Modernisierung des Reiches. Während dieser Zeit gelang beispielsweise mit der Addis Abeba-Djibouti-Eisenbahn und der Asmara-Massawa-Bahn die verkehrsmässige Erschliessung der Meerhäfen.
Die ersten Strassenachsen entstanden in der Zeit der faschistischen Besetzung (1936 – 1941). Dieser technischen Leistung gebührt auch heute noch Respekt, obwohl sich dadurch das faschistische Verhalten der Italiener nicht rechtfertigen lässt.
Unter der Derg-Zeit besass Äthiopien in Eritrea und in der Umgebung von Addis Abeba eine bescheidene Industrie, die ausschliesslich für den Eigenbedarf arbeitet (Metallwaren, Textilien, Schuhe, Lederwaren, Baumaterialien (Zement- und Holzplattenwerke), Ölraffinierien und Nahrungsmittelindustrie (Getränke, Getreidemühlen, Ölpressen).
Waren, die zur Deckung der Importbedürfnisse (militärische Waffen, Treibstoff, Autos, Stahl) exportiert werden müssen, stammen vorwiegend aus der Landwirtschaft. Es handelt sich in erster Linie um Kaffee, daneben um Zucker, Ölsaat, Getreide, Gemüse, Früchte, tierische Häute, auch um lebende Schlachtschafe und -ziegen sowie Chat-Blätter (milde Kau-Droge), die nach Arabien ausgeführt werden.
Die Importbedürfnisse während der Derg-Zeit (hauptsächlich Waffen und Treibstoff) konnten während Jahren durch den Exporterlös nicht mehr abgedeckt werden. Das Land verschuldete sich damals zusehends.
Die Aussichten für eine industrielle Entwicklung sind mittelfristig nicht allzu ungünstig. Es mangelt werden an begabten Arbeitern noch an Rohmaterialien und Energie (Wasserkraft). Voraussetzung bleibt allerdings eine schnelle Beilegung der Bürgerkriege und der innenpolitischen Wirren.
Das Strassennetz und der regionale Handel und Austausch weist heute grosses Wachstum auf. Heute werden z.B. Gartenprodukte aus dem Süden im ganzen Lande angeboten.
Auch das neue Äthiopien bleibt ein Agrarland, das vorwiegend unverarbeitete oder wenig veredelte Rohwaren wie Kaffee, Ölfrüchte, Häute, lebende Tiere und neuerdings auch Blumen und Gemüse exportiert. Das Wirtschaftswachstum weist auf tiefem Niveau heute gute Wachstumszahlen auf. Im Bereich Gebrauchsgüter und Lebensmittelverarbeitung produzieren die stetig wachsenden Industriebetriebe vorwiegend für den Binnenmarkt. Internationale Investoren verhalten sich noch zurückhaltend. Arabische Investoren und China sind zur Zeit die Macher im Lande. Viele Industriebetriebe sind halb-staatlich und wenig effizient gemanagt.
Problematisch bleibt weiterhin das Fehlen von guten Handwerkern, obwohl die Regierung Handwerksschulen besonders fördert. Leider besitzt Handwerk auch heute noch ein tiefes Prestige. Die Jugend träumt von Jobs, welche keine schmutzigen Hände abgeben.